Freitag, 23. September 2016

Eurosense 2016 - Neues aus der Sensorikwelt

Letzte Woche war ich auf der Eurosense in Dijon, einem Sensorikkongress, der im 2-Jahres-Rhythmus in Europa stattfindet. Auf Kongresse dieser Art fährt man, um Kollegen zu treffen, und um aufzuspüren, welche Themen relevant werden (könnten). Sensorik - quo vadis?


1. Real oder virtual reality?

Sensorik ist bekanntlich eine Disziplin, die sich mit der Sinneswahrnehmung von Lebensmitteln, also mit dem Sehen, Riechen, Schmecken, Hören, Spüren derselben  beschäftigt. Das ist etwas sehr Reales - umso bizarrer, dass nun virtuelle Realitäten für sensorische Bewertungen Einzug halten!

Ein hypothetisches Beispiel gefällig? Ein Hersteller möchte Kaffee bewerten lassen. Um den Konsumenten dafür in die richtige Stimmung zu versetzen, bekommt dieser im Sensoriklabor eine Brille aufgesetzt und befindet sich 360° virtuell im Kaffeehaus.  In diesem Setting gibt er nun seine Bewertung zum Kaffee ab. Analog kann der Duft von Sonnencreme im Strandsetting gerochen werden (siehe Foto oben Mitte, ich am Testerin, Stand der ISI GmbH). Der Phantasie sind keine Grenzen gesetzt - noch aber der tatsächlichen Anwendung in der Praxis. Derzeit befindet sich das Ganze im Entwicklungsstadium, wobei sich mehrere Anbieter damit beschäftigen.

Aber warum nicht gleich im Kaffeehaus testen? Sensorische Marktforschung kann an verschiedenen Orten passieren:
  • als Central Location Test, d.h. in einem Einkaufszentrum, im Kaffeehaus. o.a. - unter semi-kontrollierten Bedingungen
  • als Home-Use-Test, wo die Tester die Produkte zuhause konsumieren, man aber keine Kontrolle darüber hat, wer die Bewertung abgibt.
  • als Labortest: das hat den Vorteil, dass Kostproben exakt vorbereitet werden und die Verkostung unter kontrollierten Bedingungen abläuft, und den Nachteil, dass ein Labor kein übliches Konsumsetting darstellt.
Um im Labor eine stärker „reale“ Situation zu generieren, gibt es 2 Möglichkeiten: Konsumenten  können zu Beginn eine Instruktion erhalten. Beim Kaffeetest könnte diese lauten: „Denken Sie an eine Situation, in der Sie gerne eine Tasse Kaffee trinken. Stellen Sie sich diese Situation ganz deutlich vor und beschreiben Sie diese Situation.“  Erst danach erhalten die Konsumenten Kaffee zum Testen. Diese Variante bringt Konsumenten in eine gedankliche Welt - auch das ist auf gewisse Weise virtuell. Die zweite Variante ist eben jene der virtuellen Realität.
Ob sich virtual reality Tests mit Brillen künftig durchsetzen werden, ist freilich offen. Es war aber in jedem Fall DAS neue Sensorikthema des Kongresses.

 2. Emotionen sind nicht universell

Sensorische Marktforschung  funktioniert entweder in Form einer Befragung, wie gut oder schlecht ein Produkt empfunden wird, oder über Beobachtung. Man kann Gesichtsbewegungen beim ersten Schluck oder Bissen analysieren (das geschieht mittlerweile meist mit entsprechende Programmen wie Face Reader), man kann Hautleitfähigkeit oder Fingertemperatur messen, oder schlicht und einfach wiegen, wieviel konsumiert wurde.

Die Analyse von Gesichtsbewegungen (Facial Action Coding System, kurz: FACS) stammt ursprünglich aus der Psychologie. Seit einigen Jahren wird sie auch in der Sensorikforschung angewandt. Dabei stellt sich die Frage, ob Menschen aller Kulturen hinsichtlich Mimik gleich reagieren. Lisa Feldmann Barrett beantwortete dies auf der Eurosense 2016 mit NEIN. Zwar ist es nicht komplett zufällig, wie wir dreinschauen, aber Variationen in den Gesichtsausdrücken bei Emotionen sind nicht Ausnahme, sondern die Regel.  Die Hadza, eine semi-nomadisch lebende Volksgruppe in Tansania, interpretierten Bilder mit Gesichtsausdrücken anders als Amerikaner. (Anmerkung: Das könnte allerdings auch an sprachlichen Begrifflichkeiten liegen - mitunter besitzen die Hadza nicht für jede gezeigte Emotion  ein eigenes Wort).

3. Gehirnmessungen: nicht nur beim Kosten, sondern beim Kochen

Insekten sind als Thema noch nicht ganz abgerissen. In einer Studie von A.-M. Brouwer mussten Konsumenten ein Stir-Fry mit Mehlwürmern (oder Huhn) zubereiten und kosten, dabei wurden Gehirnaktivitäten gemessen. Der Neuheitswert liegt weder im Insektengericht, noch in der Messmethode,  sondern im Zeitpunkt. Es war dies die erste Konsumentenstudie, wo Gehirnaktivitäten bereits während des Kochens aufgezeichnet wurden.

4. Neues aus der Sinnesphysiologie

Dass Temperaturänderungen im Mund bei vielen Menschen ein Geschmacksempfinden auslöst, weiß man schon länger. Man spricht in diesem Fall von „thermal taster“, die 25-50% der Bevölkerung ausmachen. Thermal taster brauchen keine extremen Temperaturdifferenzen, es genügen bereits Sequenzen à la  35-15-40 °C, um etwas zu schmecken. Neu ist nun die Erkenntnis, dass das temperaturbedingte Schmecken ohne Geschmacksstoff tatsächlich mit der Aktivierung jener Gehirnregion einhergeht, wo der Geschmack verarbeitet wird. Dieses verbreitete  Phänomen kann also nicht einfach als Phantomgeschmack deklariert werden kann (M. Skinner).

5. Schnellmethoden

Die letzten Jahre waren geprägt von der Entwicklung sensorischer Schnellmethoden, mit dem Ziel, Kosten zu sparen und auch kleinen Unternehmen Möglichkeiten für sensorische Analysen zu bieten. Viele dieser Methoden sind als Ersatz für beschreibende Methoden angedacht, die meisten basieren auf Ähnlichkeitsmessungen von Produkten. Dabei werden - je nach Methode - Produkte in Gruppen nach Ähnlichkeit sortiert, oder relativ zueinander auf einem Blatt Papier positioniert.

Paula Varela präsentierte eine kindgerechte Variante der „projective mapping“ Methode: Kinder zwischen 5 und 10 Jahren bekamen Sticker von Lebensmitteln und mussten diese auf einem Stück Papier entsprechend ihrer Ähnlichkeit aufkleben. Ähnlichere Lebensmittel sollten näher beisammen kleben, sehr unterschiedliche weiter voneinander entfernt. Die Idee dahinter: zu sehen, bei welchen sonstigen Lebensmittelgruppen Fisch in den Köpfen der Kinder angesiedelt ist. 5-6 Jährige klebten 3 Gruppen von Lebensmitteln, 7-8 Jährige und 9-10 Jährige jeweils 4 Gruppen. Die Jüngsten gruppierten salzige und pikante Speisen zusammen - Fisch landete u.a. mit Pizza und Burger in einer Gruppe, weiters formierten sie Gruppen mit süßen Produkten bzw.  frischem Gemüse. Die 7-8-Jährigen unterschieden vordergründig zwischen süß und salzig, in der zweiten Dimension dann zwischen gesund und ungesund bzw. hedonisch. Erst bei den 9-10 Jährigen war die Dimension like-dislike die vordergründige Entscheidungsmatrix.

6. Katzen als Tester

Sehr nett und unterhaltsam, wenn man sonst Humansensorik betreibt, war ein Vortrag von J. Rogues über Katzensensorik. Katzen können bereits im zarten Alter von 3 Monaten zu regelmäßigen Verkostern werden. Spannend die Ergebnisse, dass Vorlieben des Tieres nicht immer von den Eigentümern korrekt erkannt werden.


Mit welchen Sinnen erlebt man einen Sensorikkongress?
  • Sehen: Augenschmaus beim Mittagessen (hier ließen die Franzosen wahrlich nichts anbrennen, Chapeau! Desserts am Foto oben links), virtuelle Welten, nette Kollegen. Und nach dem Kongress die wunderschöne Umgebung - Weinberge in der Abendsonne
  • Riechen: das Aroma von Camu Camu - einer Amazonasfrucht, die mir bis dato unbekannt war. Außerdem Riechproben bei virtual reality Demos, Kaffee in Pausen,  und Käse & Wein bei abendlichen Verkostungen.
  • Schmecken: eh klar, das Essen sah nicht nur gut aus!
  • Hautsinne: Haptik der Stühle, eiskalte Saaltemperatur in manchen Räumen bei Parallelsessions  (für mich gefühlte 15°C, während es draußen 30°C hatte), sehr heißer Kaffee. Entgangen ist mit leider ein Senf-Zuckerl - Senfschärfe ist den Hautsinnen zuzuordnen.
  • Gehörsinn: Musikstück, das für eine Studie zum Thema „The soud of spice“ (Q.J. Wang) komponiert wurde.

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